Heimstättervereinigung Steenkamp e.V. gegr. 1920

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Ladengeschäft im Veit-Stoß-Weg

Siedlungs-Geschichten

“Herr Viehstädt erzählt von seinem Ladengeschäft im Veit-Stoß-Weg”

Laden im Veit-Stoß-Weg
Jeder, der in der Steenkampsiedlung und den umgebenden Straßen wohnt, sollte die beiden stets liebevoll dekorierten Schaufenster des ehemaligen Geschäftes im Veit-Stoß-Weg kennen. Warum? Lesen Sie selbst:

Interview aus dem Jahr 2013
(Artikel aus dem Steenkamper 2014/2&3)
Interview: Claus Thiele (CT), Fotos: Matthias Raabe
Ergänzungen bei der Nachbearbeitung sind kursiv dargestellt.

JohannesViestädt

JohannesViestädt

Johannes Viehstedt (JV): Ich bin kein Original-Steenkamper, ich habe in die Siedlung eingeheiratet. Meine Frau war eine echte Steenkamperin. Nun lebe ich allein, meine Frau und meine Tochter sind verstor- ben. Schwiegersohn, Enkelin und Urenkelin wohnen aber in unmittelbarer Nähe, von ihnen werde ich sehr gut um- und versorgt.

Eine Schwester meiner Frau lebt noch in der Wohnung meiner Schwiegerel- tern, wo es den sogenannten Stubenladen für Obst und Gemüse gegeben hat. Das Geschäft war in den ganzen Jahren ein reiner Familienbetrieb. Während mein Schwiegervater mit Pferd und Wagen ’rumgefahren ist, hat meine Schwiegermutter das Obst und Gemüse verkauft. Meine Frau und ihre Schwester sind als Schulmädchen nach dem Unterricht mit dem Vater durch die Siedlung gefahren und haben ihn beim Verkauf unterstützt.

Claus Thiele (CT): Was für Waren hat er denn verkauft?
JV.: Zuerst nur Obst und Gemüse. Dieses hat er beim Großmarkt eingekauft. Mit Pferd und Wagen war das ein weiter Weg. Ende der 30er Jahre hat er den Führerschein gemacht und hat sich einen Tempo gekauft (dreirädriger Liefer- wagen der Tempo-Werke in Harburg).

CT: Ist denn dieser Laden hier (im Veit-Stoß-Weg) parallel betrieben worden? JV.: Nein, es ergab sich die Gelegenheit, das Grundstück für den jetzigen La- den zu kaufen. Der Besitzer war Tischler und hatte hier seine Werkstatt. Er hat übrigens die gesamten Türen und Fenster für die „runden“ Häuser ge- macht. Er wollte sich verändern und seine Frau hatte bei einem Einkauf im Stubenladen gefragt, ob sie jemanden wüsste, der das Haus kaufen wolle. Meine Schwiegereltern hatten Interesse, haben beratschlagt und verhandelten dann mit dem Tischlermeister. Geld hatte mein Schwiegervater keines, aber er hatte eine kleine Rente, 2000 Mark. Diese hatte er sich auszahlen lassen (somit war die Rente für den Rest seines Lebens weg), aber 2000 Mark waren

schon mal ein Anfang. 1929 wurde der Laden umgebaut, und seine Tochter (meine Frau), die ja schon als Schul- mädchen immer mitgeholfen hat, wurde zur guten Seele des Geschäfts und hat es übernommen. Schauen Sie sich mal um, ich habe noch alle Unterlagen hier, als Geschäftsinhaber musste man ja alles aufbewahren, wir haben noch alle Urkunden

da, die habe ich fotokopiert und diese Chronik erstellt. Schauen Sie, hier kann man noch den Pferdestall sehen, den hat mein Schwiegervater umgebaut, damit der Tempo darin stehen konnte und später wurde alles zu einer Wohnung umgestaltet.

CT.: Schade, dass der Tempo nicht mehr hier steht.
JV.: Ja, den musste er während des Krieges verkaufen, weil er zu klein war. Er hat sich ein größeres Fahrzeug, einen riesigen Ford V8, von den Engländern gekauft, musste dann aber andere Gemüsehändler mit zum Großmarkt nehmen, damit sich die Fahrt wegen der Benzinzuteilung lohnte.

CT.: Welche Waren wurden hier im Laden verkauft? JV.: Obst und Gemüse.

CT.: Immer nur Obst und Gemüse?
JV.: Nein, nein, so ganz allmählich kam immer etwas dazu. Erst Kolonialwaren, dann Fettwaren, später Spirituosen, Putz- und Waschmittel, richtig so ein kleiner Gemischtwarenladen für die ganze Siedlung.

CT.: Und wo wurden die Waren eingekauft?
JV.: Es kamen Vertreter, nahmen die Bestellungen auf und die Artikel wurden dann geliefert. Es gab Großhändler, eine Lieferfirma war z.B. Gebr. Schmid, sie kamen übrigens auch aus der Siedlung, sie lieferten zuerst mit Pferd und Wagen an, dann später mit dem Auto. Weitere Lieferanten waren die Elbschlossbrauerei, Kaffeeröstereien (Jacobskaffee), alles Großhändler. Das waren trotzdem ganz normale Leute, kamen mit dem Tempo an um uns zu beliefern. Ging alles wunderbar.
Milchladen, Schlachter, Bäcker, Kolonialwaren, sogar ein kleines Textilgeschäft, konnten nebeneinander (in der Siedlung) gut existieren. Hier z.B. sehen Sie eine Ausstellung der gesamten Geschäfte im Lindenkrug.
Immer zu Weihnachten haben sich alle Geschäftsinhaber vom Steenkamp in einer Ausstellung präsentiert.

CT.: Wo waren die ganzen Geschäfte untergebracht? JV.: Alles unter dem Dach der Pro. (Die Pro: Das damalige Ladengeschäft der Produktion-Einkaufsgemeinschaft im Steenkamp 29-33. Die großen Fensterscheiben der Ladenfront tragen noch heute die historischen Ätzungen des Produktion-Firmenemblems.) Man konnte innen von Laden zu Laden gehen, da hatten es die Hausfrauen einfach. Es gab da sogar eine Bank, auf der man sitzend warten konnte, wenn es zu voll war. Wir waren ja alle Mitglieder der Pro. Der Beitrag kostete 50 Mark, dafür bekam man Rabattmarken. Die wurden eingeklebt. Wenn das Heft voll war, ging man hin, bekam aber kein Geld, sondern Gutscheine. Damit wurde wieder eingekauft. Gewissermaßen ein Tausch: Das Geld blieb immer da und es wurde dafür wieder Ware eingekauft.

Unter den Geschäftsleuten herrschte ein gutes Verhältnis, mein Schwiegervater verkaufte vor der Pro sein Obst und Gemüse und da er schon um 7:00 vom Großmarkt zurück war, hatte er als erstes die frischesten Waren, z.B. Erdbeeren.

Die Pro wurde von der Zentrale aus beliefert, meistens erst am Vormittag. Und so kauften die Verkäuferinnen der Pro bei ihm die frischen Erdbeeren, um sie wiederum zu verkaufen. Es war eben eine andere Zeit damals.
Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass wir ein Feinkostgeschäft geworden sind. Wir hatten die Freiheit, das einzukaufen, was die Kunden haben wollten. Wir konnten alles besorgen. Wir hatten immer nur das im Angebot, was von den Kunden gewünscht wurde, deshalb konnten wir uns auch so lange halten.
Was glauben Sie, wie Edeka, Spar, A&O uns die Türen eingerannt haben und unseren Laden kaufen wollten – ich sollte als Geschäftsführer drin bleiben. Das kam aber überhaupt nicht in Frage. Wir hätten dann nur das verkaufen dür- fen, was in deren Sortiment war. Diese Erfahrung hatten auch schon andere gemacht: Man musste das verkaufen, was sie geliefert hätten, nicht das, was die Kunden haben wollten. Wir hatten auch kein großes Lager und keinen großen Bestand. Wir hatten ca. 1200 Artikel, aber immer nur von jedem etwas.

Das zu verwalten war alles viel Arbeit, und da wir beim Laden wohnten, hat- ten wir auch keinen Feierabend. Oftmals fiel meiner Frau am Abend noch dies und jenes ein und sie verschwand im Geschäft und bereitete irgend etwas für den nächsten Tag vor. Der Laden war ihr Ein und Alles, schließlich war sie seit ihrem 14. Lebensjahr bis Mitte 70 mit ihm verbunden.

Mitunter ging es auch ganz lustig zu, wenn einige Steenkamperinnen beim Einkauf erzählten und schluderten. Da haben sie die Mettwurst, welche fürs Abendbrot gedacht war, unbemerkt nebenbei aufgegessen. Das war so richtig ein kleiner gemütlicher Laden.

CT.: Wie haben Sie das Geschäft dann aufgegeben? Haben Sie das einfach so beschlossen…
JV.: Ja, wir wollten insofern Schluss machen, weil meine Tochter, mittlerweile verheiratet, auch mal mit ihrem Mann Urlaub machen und verreisen wollte. Sie war inzwischen ins Geschäft mit eingestiegen. Meine Frau konnte die Ar- beit nicht mehr alleine bewerkstelligen und ich hatte mich aus dem Geschäft schon etwas mehr zurückgezogen. Mittlerweile war ich Rentner, meine Frau bekam keine Rente, denn als mithelfendes Familienmitglied bezog sie kein Gehalt, sondern nur Kost und Logis und ein kleines Taschengeld.

Und als meine Tochter dann sagte, so Mami, wir haben bald 60-jähriges Jubiläum, danach sollten wir schließen, da war sie überhaupt nicht mit einverstanden. Aber nach dem Jubiläum, 1985, war dann endgültig Schluss.

Anschließend konnten wir beide ’mal verreisen, was wir bis dahin nie gemacht hatten, aber

nicht nach Mallorca, sondern in den Schwarzwald, den Harz, an den Chiemsee. Das war eine schöne Zeit, wir haben noch goldene Hochzeit gefeiert und sogar noch die Diamantene an der Müritz. 60 Jahre mit der gleichen Frau, bzw. sie hat das mit mir solange ausgehalten.

CT.: Was für ein Leben, kann ich da nur sagen!

CT (Claus Thiele): Herr Viehstädt, es ist unglaublich reichhaltig was Sie zu erzählen haben und ich finde es witzig, dass Sie bei unserem Telefonat gesagt haben: Na ja, ich weiss gar nicht, was ich erzählen soll. Da müssen Sie schon Fragen stellen. (Claus lacht). Fast jedes Wort ist für mich Neu-Steenkamper neu!

JV (Johannes Viehstädt): Nachdem wir unseren Laden geschlossen hatten, habe ich mir ein anderes Hobby gesucht. Hier schau’n Sie mal. (JV zeigt einen kleinen metallenen Gegenstand, der sich als Schrifttype aus der Druckereibranche entpuppt).

CT: Ach ja, Sie sind Buchdrucker. Wo haben Sie das gelernt?
JV.: Bei der Firma Treu und Compagnie in der Borselstraße, Ottensen. Diese Firma gibts auch nicht mehr. Da hab ich vier Jahre Schriftsetzer, Buchdrucker gelernt. Ende der 80er Jahre habe ich in der MOTTE mitgeholfen und hab’ dann meine Bücher gedruckt. (Die MOTTE ist ein Stadtteil-Kulturzentrum in der Eulenstraße43 in Ottensen. Dieser Stadtteil heißt bei Hamburgern auch „Mottenburg“)
Herr Viehstädt zeigt ein Buch, sein erstes in der MOTTE selbst gedrucktes. Mit selbstgemachten Fotos. Claus darf alles mitnehmen. Leihweise! Gedichte und Zeichnungen von Hans Leip.

JV: Hans Leip hat in Oevelgönne gewohnt – ich bin Oevelgönne-Fan. Als Kinder, wenn wir denn Ferien hatten, sind wir immer zum Strand gefahren. Wir sagten nicht Oevelgönne, wir sagten Strand. Da waren Ruderboote, die wir mieten konnten  für 30 Pfennig die Stunde. Das Geld haben wir mit drei, vier Mann zusammengelegt, haben geschwommen und gebadet.

Das habe ich alles da (zeigt auf seine Broschüren). Sehen Sie, früher noch mit den Badekarren, wo die Damen sich umgezogen und dann runtergelassen verdeckt gebadet haben, damit ja keiner ihre Beine sah!

Wir hatten z.B. hier in Altona – das weiß auch kein Mensch mehr – den ersten Fahrradklub der Welt.
Das war der sogenannte Bicycleclub. Damen mit Kunstfahrrädern 1935.

CT stellt fest, dass er in der falschen Zeit lebt.

Herr Viehstädt gestaltet hin und wieder Bilderausstellungen zu Themen aus früherer Zeit, die er dann im Schaufenster seines ehemaligen Ladens aushängt.
JV: Sehen Sie, ich habe hier von Nachbarn, die ja meine Bilder im Schaufenster immer sehen, mal so ein Buch über Hamburg-Altona bekommen. Im Augenblick ist im Schaufenster daraus gerade etwas von der Fischerei ausgestellt, vielleicht haben Sie es gesehen. Als nächstes jetzt kommt das Thema Freizeit und Familie dran.

CT erwähnt Herrn Simonsohn, der vor dem zweiten Weltkrieg in der Ebertallee wohnte und im Krieg Jagdfliegerpilot war. Seine Biographie „Ein Leben zwischen Krieg und Frieden“ ist vor einiger Zeit im STEENKAMPER vorgestellt worden. Der Flugplatz auf dem heutigen DESY-Gelände spielte darin eine gewisse Rolle.

JV: Sehr interessant. Der Flugplatz Altona sollte eine Ausweichmöglichkeit für Fuhlsbüttel werden. Die Stadt hatte ein Vorkaufsrecht (das heutige DESY-Gelände). Aus dem Projekt wurde nichts, es landeten hier nur noch Sportflug- zeuge. Wenn junge Mädchen fragten, durften sie auch mitfliegen, das war damals alles möglich. Ich bin als 10-jähriger auch dort gewesen.

JV: Soll ich Ihnen mal eine Geschichte erzählen? Als wir eben verheiratet waren (haben Sie Zeit? – Claus sagt ja…) da ging das Tanzen wieder los. Da war ein Barackenlager, es wohnten Soldaten aus der Ostzone da, die nicht wieder zurück wollten. Die haben gerne Musik gemacht, der Krieg war ja vor- bei, und so haben wir uns da getroffen zum Tanzen. Eines Abends saßen wir da schön und die Deutschen machten Musik und spielten auch englische Lieder.

Da kam meine Nichte rein und sagte: sie haben Wolfi erschossen. Das war der Sohn von Familie Helmer. Die Kinder waren auf dem Flugplatz und wollten Fallschirmseide mitnehmen, die sehr begehrt war. Und da haben die Englän- der auf ihn geschossen und ihn getroffen, Mein Schwager und ich schnell hin zum Steenkamp 37, schnell einen Arzt geholt, ein Jude, den haben wir dann rangerufen: „Der Junge hat einen Durchschuss, knapp am Herzen vorbei.

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 Er muss sofort ins Krankenhaus. Da oben in der ehemalige Steenkamp-Schule sind Engländer stationiert, die werden ihm bestimmt helfen. Wenn ich als Arzt hingehe ist das sicher nicht so gut“. Wir sind dann zu den Engländern und wurden vorgestellt: Hier sind zwei GENTLEMEN, so nannten sie uns. Sie kamen auch gleich mit dem Wagen, ich fuhr dann mit ins Kinderkrankenhaus in der Bleickenallee. Die waren aber so voll belegt und schickten uns weiter ins Krankenhaus nach Altona und ich musste nun den Engländern den Weg zeigen. Immer auf den Straßenbahnschienen längs bis Altona. Wolfi wurde sofort operiert und die Engländer wollten wegfahren. Ich sagte, ihr müsst aber wieder kommen, es ist ja Sperrstunde und ich komme sonst nicht nach Hause. Sie waren dann um 1:00 Uhr wieder hier und holten uns ab. Die Engländer hatten ja nicht gewusst, dass das auf dem Flugplatz Kinder waren. Es war dunkel und sie haben auf Rufen nicht reagiert und so haben sie dann geschossen.

Am nächsten Tag habe ich Wolfi dann besucht und erfahren, dass die Engländer ihn um- und versorgt haben mit belegten Brötchen etc. Ihm gefiel das sehr gut, er hat vom Durchschuss gar nichts mehr gemerkt.

CT: Eigentlich wollten wir ja noch ein paar Fotos vom Laden machen. Aber ich hab geahnt Herr Viehstädt, dass unser Gespräch hier bereits so umfang- reich werden könnte.
JV: Sie können froh sein, dass ich so redelustig bin. Ich bin ja meist allein und wenn ich dann Besuch bekomme, erzähle ich gerne…


Wer hat Lust, uns ebenfalls aus der “Alten Zeit” zu berichten, unwichtig ob lang oder kurz. Melden Sie sich gerne bei der Redaktion des STEENKAMPER. Das Interview – vielleicht bei einer Tasse Kaffee – ist nicht anstrengend.
Die nächste Generation ist dankbar zu erfahren, wie es früher einmal zuging in der Siedlung.