Heimstättervereinigung Steenkamp e.V. gegr. 1920

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Erika, 93 Jahre sind eine verflixt lange Zeit.

aus dem Steenkamper1/2019

Erika, 93 Jahre sind eine verflixt lange Zeit.
von Gertrud Krapp

Erikas Leben überspannt einen Zeitbogen von 1925 bis heute. Von den Goldenen 20ern des letzten Jahrhunderts, reicht er über Inflation, Nationalsozialismus und den zweiten Weltkrieg, Nachkriegsjahre mit Hunger und Kälte, die Einführung der DM, die Zeit des Wirtschaftswunders, die Zeit der Beatles und der Stones, das Aufkommen des Internets, eine Jahrtausendwende, die Nachkriegszeit und eine zweite Währungsreform mit der Einführung des Euro, bis hinein ins digitalisierte Jahrhundert. Und wenn Eine solange „dabei“ ist, dann kann sie was erzählen. Und das tut sie.
 
Nach 87 Jahren in der Steenkampsiedlung, Rüsternkamp, zog sie 2012 um die Ecke ins Bugenhagenhaus, in eine helle gemütliche kleine Wohnung. Der Garten wurde jedes Jahr ein bisschen größer, sagt sie, es war Zeit. Nun lebt sie dort auch schon 6 Jahre. Das mit dem Gehen, das ist nicht mehr so toll. Aber das kommt mit dem Alter, Bette Davis & Joachim Fuchsberger, meinten, Altwerden ist nichts für Feiglinge. Wohl war. Erika ist kein Feigling, sie ist hellwach und eine ausgesprochen muntere Person. Ihre Augen blitzen, wenn wir diskutieren und sie kann aus vollem Herzen lachen. Dabei sehe ich das junge Mädchen, dass sie auch immer noch ist. Überhaupt sieht sie aus, wie gerade mal 80. Die ganze Welt hält sie sich offen, liest viel, sammelt Themen und sucht sich spannende Sendungen aus, im Radio oder Fernsehen. Die Musik spielt eine große Rolle, schon immer, aber nicht nur.
 
Zu Beginn des letzten Jahrhunderts ließ ein Hamburger Reeder, Herr Laeisz, eine Flotte sogenannter Flying P-Liner bauen. Die Schiffsnamen begannen alle mit P…  wie Pudel, dem Spitznamen der Reedersgattin. Eines dieser Schiffe war die Viermastbark Peking von 1911. Bekannt sind auch die Passat (liegt seit langem vor Travemünde), die Pamir (im Orkan untergegangen 1957) oder die Padua (segelt als wunderschöne Kruzenshtern über die Meere). Die Peking wurde im Sommer 2017 unter großem Aufwand im Huckepackverfahren aus New York geholt und wird aktuell in Wewelsfleeth restauriert. Nach einer wechselvollen Geschichte ist sie zurück. Sie wird der „Hamburger Veermaster“ und vermutlich in gut einem Jahr gegenüber der Elbphilharmonie im Hafen liegen und sehr großen Eindruck machen. Die Peking ist eines der Themen, das wir im Gespräch entdeckt und gemeinsam haben. Ich durfte mich durch eine dicke Sammelmappe mit Berichten von großen Seglern und eindrucksvollen Kapteins lesen. Ein anderes Thema sind die Stolpersteine für die Opfer der NS-Herrschaft. Sie waren überhaupt der Anlass, Erika zu besuchen, als sie im August 2018 anrief und nach dem Artikel im Steenkamper fragte. Ihre Familien waren Nachbarn… übern Düngerweg, Am Torbogen, und sie erinnert sich noch gut an den jungen Günther von Borstel, wie er da stand, immer ein bisschen verwirrt.

Dann haben wir noch die Musik, ach la musica… Der Schulchor war ihr so wichtig. Und dann sollte sie zunächst nicht mitmachen dürfen, seinerzeit, in der Dorfschule Röbbek. Aber es klappte dann doch und es folgen die verschiedensten Gesangsaktivitäten, z.B. im Chor der Eltern oder Ende der 40er Jahre in einer Schule am Stadtpark. Dort gab es eine Art offenes Singen, mit Fritz Jöde und Gottfried Wolters. Beide Chorleiter, beide habe haben viele bekannte Lieder hinterlassen. Erika besitzt es eine große Sammlung von Liederheften zu den unterschiedlichsten Themen, die gab es statt Beamer oder Handy sozusagen. Das war der Start, es folgten lange Jahre des Chorsingens und der Reisen zu musikalischen Treffen in ganz Europa. Die schönste Reise von den vielen, das war die Reise, die im Mai 1999 nach Krakau führte. Dafür gab es verschiedene Gründe, sie wollte Polen immer gerne kennen lernen, es gab zuvor lange schon Brieffreundschaften und, es war die letzte Reise.
Vielleicht hat sie das Reise-Gen ja vom Vater. Er wurde 1894 geboren. Gut, dass er nicht in die Zukunft schauen konnte. Er würde in den Krieg ziehen und doch wieder nach Hause kommen. Er würde seine Liebste heiraten. 1913 geht er allerdings auf Wanderschaft durch Deutschland und Österreich, von Szczecin (Stettin) durch Deutschland, über die Schweiz bis nach Verona. 100 Postkarten sammelt er auf dieser Reise. Eine Einzige hat Erika behalten, die anderen sind heute als Sammlung im Altonaer Museum zu sehen und erzählen die Geschichte dieser Zeit.
Und die Karte, die sie behalten hat, zeigt den Marktplatz von Erfurt mit der großen Treppe zwischen Dom und Severikirche. Sie hatte lange gehofft, einmal über diese Treppe zu gehen. Und auch das hat geklappt, mit der Kantorei kam sie am 3. Oktober 1998 nach Erfurt und stand genau dort.
Die Geschichte der Familie ist wohl typisch für den Start der Siedlung. Die Wohnung in Ottensen, dort wohnte die gesamte Familie des Vaters, war eng. Und vor den Toren der Stadt war gebaut worden, für die Arbeiterfamilien, die Kriegsheimkehrer… Und so ergab sich die große Chance. Umzug in ein modernes Haus, in die im Bau befindliche Steenkampsiedlung. Viele Bekannte in einer ähnlichen Lebenssituation zogen ebenfalls dorthin, man kannte sich also, es war recht familiär. Für Erikas Familie begann alles um 1920 im Winkel (Rosenwinkel), 1923 später kam der Umzug in den Rüsternkamp. 1925 wird dort die Tochter Erika geboren. Und eine Mudder Griebsch, die Hebamme Frau Boysen, die Sand/Ecke Kluckstraße (Wichmannstr.) wohnte, sie half, hier und in der ganzen Siedlung! Im Garten kam ein Anbau dazu, als die Oma ins Haus kam. Sie bekam ein eigenes Zimmer, das war seinerzeit unüblich. Die Hühner mussten weg. Fließendes Wasser für die ganze Familie und ein eigenes Klo: Luxus! Im Winter war es sehr kalt, das mit den Heizungen, das kam erst sehr viel später.
Was die Steenkamper Zeit betrifft, so erinnert sich der eine oder die andere vielleicht an Erikas Aktivitäten in der Heimstättervereinigung. Sie hat es mit den Zahlen und so manche Kasse geprüft. Kein Job, um den man sich reißt, aber wichtig ist er halt, sagt sie heute. Lieber noch erinnert sie sich an 

die Künstler, von denen es so einige gab. Da lebte Am Torbogen einige Jahre lang der Erich Hartmann, kein ganz unbekannter. Er gab um die Ecke, an der VolkshochschuleWest, Kurse in Zeichnen und Malen und war z.B. zuletzt 2010 mit in einer Ausstellung in der Kunsthalle und ab April 2019 im Jenischhaus. Ganz spannend für Steenkamper/innen ist auch der Scherenschnittkünstler Georg Hempel, der Nachbar aus dem Winkel. Man war lange freundschaftlich verbunden. Es gab von ihm Motive zu Ostern oder Weihnachten in unserer Zeitung, z.B. 1968/69. Man findet seinen Nachlass im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, wenn man mag. Er war sehr vielseitig und talentiert und arbeitete auch in Messing. Erika trägt zu einem Gespräch einen wunderschönen Silberring von seiner Hand. Das Steenkamp-Logo, das wir heute benutzen, geht auf seinen Entwurf zurück. 2000 kam noch ein anderer Hempel, ein Rolf, zum Zuge, er malte das Saalbild. Im Rosenwinkel, erinnert sich Erika, wohnte auch Gerd Plantener, ein Mann mit einer sehr großen Liebe zur Inselbücherei, er wurde „Inselpapst“ genannt. Bis zu seinem Lebensende sammelte er, 2595 Bändchen wurden 1992 versteigert und brachten 67.000 Mark ein. Die erste Kantorin der Melanchthon Gemeinde, Renate Böß, auch Jahrgang 1925, war eines von 6 hochmusikalischen Kindern einer Nachbarsfamilie aus dem Winkel. Nach dem Umzug hatte man sich aus den Augen verloren. Und traf sich wieder… bei der Musik. Renate Böß leitete einen Chor und Erika sang…  was lag näher? 
 
Die Steenkamperin Erika hat sich die große Stadt Hamburg richtig erobert. Lange hatte sie keine gute Beziehung zu ihr, denn sie war von ganzem Herzen Altonaerin. Altona wurde ja 1937 unter den Nationalsozialisten Hamburg zugeschlagen. Die Altonaer Stadtgrenze verlief unmittelbar hinter den westlichen Gärten der Siedlung, dort waren die Grenz-Eichen, Osdorfer Weg/Am Torbogen und in der Feuerbachstraße über die Osdorfer rüber. Viele Altonaer Bürger/innen hatten sich die Zusammenlegung nicht gewünscht. Für Erika zeigte sich der Unterschied der Städte in den Stadtwappen: Das Hamburger Wappen zeigte ein geschlossenes Tor, das der Altonaer zeigte ein offenes Tor. So wäre das mit der Aufgeschlossenheit, sagt sie! 1937 wurden in Folge der Zusammenlegung Straßennamen verändert. Erika erzählt, dass ihre Tante vier Mal unter einer anderen Adresse gewohnt hat, ohne ein einziges Mal umzuziehen: In der Lauenburger Straße zu Anfang, dann in der Ebertallee, im Nationalsozialismus wurde letztere zur Horst-Wessel-Allee, um schließlich wieder eine Ebertallee zu werden.
Tja, und was die Peking betrifft, so gibt es einen Kalender über die Restaurierung der Viermastbark. Und Erika und ich betrachten verzückt alte rostige Schiffsteile und sehen 32 windgebauschte Segel und ein stolzes Schiff auf der Elbe schaumgekrönten Wogen im glitzernden Sonnenschein.
So, bevor das hier eine Sonderausgabe wird, Schluss mit dem Erzählen, obwohl es noch so viele Geschichten gäbe, die kein bisschen verwittert sind… Vielleicht ein anderes Mal, denn Erika schreibt an ihrer Biografie.

Informationen und Quellen:
Stolpersteine: www.stolpersteine-hamburg.de
Peking: www.peking-freunde.de
Kap Hoorniers: de.wikipedia.org/wiki/Kap_Hoornier
Salpeter-Route: de.wikipedia.org/wiki/Salpeterfahrt
Georg Hempel: *28.09.1894 +30. 12.1969  https://schattenriss.jimdo.com
Erich Hartmann: *07. 01.1886 +23. 09.1974 https://de.wikipedia.org/wiki/Erich_Hartmann_(Maler)
Nachweis Versteigerung Inselbücherei: HH Abendblatt 11.12.1992, Auktion bei Hauswedell & Nolte
Änderung der Straßennamen in der Siedlung: www.steenkamper.de/index.php/strassennamen

 Making of
Ich wäre deutlich freundlicher gewesen am Telefon, im letzten August, als mich eine Frauenstimme fragte, ob ich für den Steenkamper Nr. 1 geschrieben hätte. Ja und? Was gibt’s? Das waren so meine Gedanken. Ich musste los, hatte keine Zeit, warum hatte ich bloß abgehoben? Eine halbe Minute später war ich mitten in einem interessanten Gespräch. „Na sie haben doch über die Stolpersteine geschrieben, ich kannte die Leute noch….“ Was? Kannte? Du meine Güte, ist doch ewig her… Nach einer Minute hatte ich ein Date und eine Adresse… und war sehr neugierig, auf wen ich treffen würde. Das schien mir total spannend zu sein. Ich habe mich kurz mit Max abgesprochen… Was meinst du, ist das interessant für den Steenkamper? Ja, mach mal. Seither gab es zig Treffen, hochinteressante Gespräche und Debatten. Ich hoffe sehr, dass ich hier alles richtig wiedergebe, wenn nicht, wird Erika mir sicher was erzählen…

Gertrud Krapp